Schreiben über Mädchen
Vor kurzem traf ich mich mit einer Radiojournalistin, die im Rahmen eines Features zum Thema "Schreiben für Mädchen" ein Interview mit mir führen wollte. Zu Beginn unseres Gesprächs meinte sie, für ihre Sendung würde sie noch O-Töne von Mädchen aufnehmen, d.h. Stimmen zu den Texten, die sie in ihrem Beitrag erwähnte. Ob sie das immer so mache, wenn sie einen Literaturbeitrag sende, wollte ich wissen. Lassen Sie dann immer die Leser*innen zu Wort kommen? Nein, antwortete sie. Warum dann bei mir, frage ich mich.
Die Journalistin meinte es gut, sie wollte meine Leser*innen aufwerten indem sie sie zu Wort kommen ließ, doch gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als ob durch diese Sonderbehandlung überhaupt erst eine Minderheit konstituiert wurde, ein Raum für eine Art Katzentisch geschaffen, einer an dem Frauen und Mädchen eine Sonderbehandlung erfahren, um fernab von "richtiger" Literatur zu Wort kommen zu dürfen. Als ich anfing zu schreiben, habe ich mir über wen oder was ich schreibe, nicht viele Gedanken gemacht. Ich schrieb über das, was mich selbst interessierte, ich schrieb aus einer Perspektive, die mir bekannt war, und Spaß daran machte vor allem die Grenzüberschreitung innerhalb der kulturell vorgegebenen Rolle. Erst als der Roman veröffentlicht und über das Buch geredet wurde, merkte ich, wie sonderbar es scheinbar war, ernsthaft über Mädchen zu schreiben.
Im Deutschen ist das Mädchen grammatisch ein Neutrum. Noch keine Frau, aber auch kein Kind mehr, teilt "Es" seinen Artikel mit dem Tier, es bevölkert wie das Tier die Hausmärchen und ist mit ähnlich viel Symbolik behaftet. Ein Mädchen ist zwar nicht dumm wie Brot, aber man(n) kickt wenn man(n) Pech hat wie eins oder ist geschwätzig wie ein Mädchen, dabei sind die meisten, die ich kenne eher schweigsam. Mädchen zu sein heißt sprachlos zu sein, weil das Mädchen so gut wie nie selbst – ob fiktiv oder real – zu Wort kommt. Der Tierrechtsaktivist James Aspey legte vor einiger Zeit für ein Jahr ein Schweigegelübde ab, reiste schweigend durch Australien und versuchte ohne Worte davon zu erzählen, warum er schwieg. Weil er ein Mensch war – ein Mann – hörte man ihm beim Schweigen zu. Er schwieg, um den Tieren eine Stimme zu geben, um durch das Schweigen auf die Sprachlosigkeit der Tiere und deren Leiden in der Tierindustrie hinzuweisen, ein Leid von dem kaum ein Mensch hören will. Mich interessierte die Aktion, weil sie dem Schreiben ähnelte. Das Schreiben ist eine schweigsame Angelegenheit. Ein Text ist still, er ist wie ein schweigsames Programm, das man sich einverleibt. Erst durch die Sinne wird der Text laut, in der Stille entfaltet er seine Stimme und damit seine Kraft. Als Autorin einem Mädchen eine Stimme zu geben, heißt jedoch nicht, dass ein Text ausschließlich für Mädchen gedacht ist. Genau so wie James Aspeys Adressaten nicht die Tiere sind, sind meine Adressatinnen nicht nur Mädchen. Ich schreibe nicht für sie, sondern über Mädchen. Das darf ich nicht nur, weil ich selbst als Mädchen groß geworden bin - das darf jede Person, egal ob männlich oder weiblich.
Das Geschlecht ist etwas Fiktives, auch das Mädchen ist eine fiktive Geschlechtsidentität. Ein Schreiben über Mädchen ist ein Spielen mit dieser fiktiven Mädchenidentität, d.h. die Requisiten dieses Mädchenseins zu bespielen, zu verhandeln und gleichzeitig keinen Vertrag mit ihnen zu haben: keinen Vertrag mit Einhörnern und Glitzerhaarspangen, pinker Kleidung und langen Haaren, Eiskunstlauf und Seilchen springen, Lippenstiften und Kajalstiften, keinen Vertrag zu haben mit der ersten heterosexuellen Liebe und der daraus früher oder später resultierenden Mutterschaft als Erfüllung des weiblichen Glücks innerhalb der Kleinfamilie. Ein Schreiben über Mädchen thematisiert für mich die kulturell induzierten Zwänge und den verzweifelten Versuch daraus auszubrechen und zwar nicht nur für Mädchen, sonder für alle, die sich angesprochen fühlen, egal ob Mädchen, Tiere, Gangster, Drags oder Dandies. Genauso wenig wie Gangster, Drags oder Dandies verlieben Mädchen sich in Pferde. Mädchen sind wie Dandies "junge Leute, die in auffälliger Bekleidung Kirche oder Jahrmarkt besuchen“, so lautet zumindest die Wikipedia-Definition für Dandies. Mädchen hängen wie Gangster mit ihrer Gang ab, sie nehmen Drogen, stehlen und erpressen. Sie schminken sich übertrieben wie Drags, küssen ihre Freundinnen ab, ziehen sich enge Kleider an und singen mit zu hohen Stimmen Karaoke. Mädchen sind eine kulturelle Rolle, womöglich sogar eine dessen Geschichte irgendwann einmal zu Ende erzählt sein wird, wie die des Ritters. Welches Denkmal wir dieser Rolle hinterlassen, liegt an uns.
Mit der Radiojournalistin sprach ich zum Glück noch sehr ausführlich. Über die Sonderstellung von Mädchenliteratur und was mich daran stört, warum ich das für Quatsch halte. Sie hörte aufmerksam zu und hielt das Mikrofon ganz dicht an meinen Mund. Kurz fühlte ich mich dabei wie James Aspey, als er nach einem Jahr auf der Couch des australischen Frühstücksfernsehens saß und sein Schweigen brach. Fühlt sich komisch an nach so langer Zeit endlich wieder meine Stimme zu hören, sagte er.
Stefanie de Velasco, 1978 in Oberhausen geboren, studierte Europäische Ethnologie und Politikwissenschaft in Bonn, Berlin und Warschau. 2011 erhielt sie für den Anfang ihres Debütromans den Literaturpreis Prenzlauer Berg, 2012 war sie Stipendiatin der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung. 2013 erhielt sie das Schreibstipendium des Künstlerdorfes Schöppingen. Derzeit ist sie Stipendiatin der Drehbuchwerkstatt München. Sie lebt und arbeitet in Berlin.